Kapitel 21
Abby überlief ein Schauder. Sie drängte sich eng an Dante.
In letzter Zeit kam das ziemlich häufig vor.
Sowohl das Schaudern als auch das Drängen.
Und das Stehen in der Dunkelheit, während sie sich fragte, was zum Teufel mit ihrem Leben passiert war. Vor einer Woche wäre sie schon in ihrer engen Wohnung gewesen, eingemummelt in ihr enges Bett.
Sie hätte nichts von all den schlimmen Dingen gewusst, die in der Nacht ihr Unwesen trieben, und sie hätte keine Angst gehabt, dass sie kurz davorstand, ein gegrilltes Opfer für irgendeine scheußliche Gottheit zu werden.
Ihr Blick glitt nach oben und verweilte auf dem perfekten Profil des Vampirs, der angespannt neben ihr stand. Ihr Herz machte plötzlich einen Ruck. Sie hätte vielleicht eingemummelt im Bett gelegen, aber sie wäre allein gewesen. Und unglücklich.
Was auch immer geschah, ganz egal, wie viele Bestien, Dämonen und Hexen ihren Weg kreuzen mochten, sie würde die Ereignisse nicht bereuen, die zu diesem Moment geführt hatten.
Dante an ihrer Seite zu haben war jeden Preis wert.
Während diese Erkenntnis Abbys Bewusstsein durchdrang, bewegte sich Dante ruhelos, und sie spürte, wie ihn eine Woge der Frustration überrollte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, um seinen Arm zu berühren.
»Was fühlst du?«
»Die Dämonin ist in der Nähe.«
»Wie nahe?«
Er warf ihr ein ironisches Lächeln zu. »Abby, ich bin kein GPS-Gerät. Ich kann dir nur sagen, dass sie sich in der Nähe befindet.«
»Dann müssen die Hexen auch in der Nähe sein.«
»Ja.«
Abby empfand ein vages Gefühl der Übelkeit. Es war ein Gefühl, das jedes Mal ausgelöst wurde, wenn sie an die Frauen dachte, die sie in ihrem Traum gesehen hatte. Frauen, die ihr Leben ebenso wie Dantes in ihren Händen halten würden.
»Fangen wir an, die Häuser zu durchsuchen?«
Dante neigte seinen Kopf zur Seite und witterte. Abby wusste nicht, was er roch, aber er schüttelte heftig den Kopf.
»Ich will nicht blindlings hineinplatzen. Ich bevorzuge es, mir eine gewisse Vorstellung von den Dingen machen zu können, mit denen wir konfrontiert werden.«
»Ich könnte...«
»Nein.«
Abby erstarrte bei seinem scharfen Tonfall. Es war nicht so, als wäre sie wild darauf, allein durch die Dunkelheit zu schleichen. Zum Teufel, lieber würde sie sich eine Gabel ins Auge bohren. Aber sie nahm nicht gern Befehle entgegen. Das war noch nie so gewesen, und es würde nie so sein.
»Also, ich stehe jedenfalls nicht die ganze Nacht in der Dunkelheit herum«, informierte sie Dante schroff. »Ich bin müde, ich habe Hunger, und meine Laune steuert allmählich auf stinksauer zu.«
Dante wölbte eine Braue. »Ich würde sagen, sie ist es bereits.«
»Dante.«
Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Es gibt mehr als ein Mittel, die Hexen zu finden.«
»Und wie sehen diese Methoden aus?«
Er führte sie von der ruhigen Seitenstraße zu der belebten Durchgangsstraße, die nur einen Häuserblock entfernt war.
»Vertraue mir.«
Abby verdrehte bei dem Klang der vertrauten Worte die Augen. »Kannst du mir nicht wenigstens sagen, wohin wir gehen?«
»Du wirst es schon sehen.«
Er bog um eine Ecke, und sie liefen an eleganten Restaurants mit dezenten Markisen und an geschlossenen Ladenlokalen vorbei, in deren Schaufenstern keine Preisschilder an den Artikeln hingen.
Es war eine Gegend, in der Frauen wie sie vom Wachdienst der Läden verfolgt wurden.
Abby rümpfte die Nase, als sie bemerkte, dass sie unermüdlich in die Richtung eines Straßencafes gezogen 'wurde, in dem sich immer noch jede Menge reiche Teenager und leitende Angestellte herumtrieben.
»Ich fange langsam an, diese ganze Gefährtinnensache noch mal zu überdenken.«
»Wirklich, Liebste, du solltest mehr Vertrauen in mich haben.«
»Habe ich ja, es ist nur...«
»Nur was?«
Abby hielt abrupt an und sah Dante direkt ins Gesicht.
»Ich habe Angst«, gab sie unvermittelt zu.
Er zog sie an sich und berührte sanft mit den Lippen ihren Scheitel.
»Ich lasse es nicht zu, dass dir etwas zustößt, Abby. Du hast mein Versprechen.«
»Aber was ist mit dir?«
»Ich habe durchaus eine Vorliebe für mich selbst und daher vor, mich überaus vorzusehen.«
Sie wich mit einem Stirnrunzeln zurück. »Wir wissen nicht, was die Hexen tun werden.«
»Sie werden einen neuen Kelch finden, und du wirst vom Phönix befreit werden.«
»Und du wirst der Hüter einer neuen Frau sein.«
Sein Gesicht entspannte sich. »Oh... du bist eifersüchtig.«
»Vielleicht ein bisschen.«
Er fasste ihr unter das Kinn. »Du bist meine Gefährtin. Selbst wenn ich mit einer anderen Frau zusammen sein wollte, könnte ich es nicht.«
»Aber ich werde wieder sterblich werden.«
»Das sind Sorgen für die Zukunft. Vorerst müssen wir uns darauf konzentrieren, dich vom Phönix zu befreien. Bis wir das geschafft haben, befindest du dich in Gefahr.« Seine Lippen verharrten eine Weile auf Abbys Stirn. Dann zog er sie wieder die Straße entlang und hielt vor der großen Fensterscheibe des belebten Straßencafes an. »Das sollte genügen.«
Abbys Blick glitt über die Kundinnen und Kunden, die alle schlanker, reicher und hübscher waren als sie.
»Was ist das hier?«
»Ein Cafe.«
»Das sehe ich. Warum sind wir hier?«
»Darum.«
Er deutete auf eine Stelle direkt über dem Fenster. Einen Augenblick lang konnte Abby nichts anderes als die roten Backsteine erkennen, aus denen das Gebäude bestand. Aber als die Wolken weiterzogen, konnte sie die seltsamen Hieroglyphen ausmachen, die im Mondlicht glühten.
»Graffiti?«
»Das ist ein Symbol, das anzeigt, dass der Eigentümer... nicht menschlich ist.«
Dante senkte den Arm und zeigte auf das Fenster, wo ein großer Mann sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Abby war verblüfft.
Sie hatte noch nie eine andere Person gesehen, die ihm auch nur annähernd ähnelte. Der hochgewachsene, muskulöse Mann besaß eine Statur, um die ihn ein Profi-Wrestler beneidet hätte. Er trug ein lockeres, grünes Hemd, das mit Pailletten besetzt war, und eine Hose mit Leopardenmuster, die wirkte, als sei sie ihm auf den Körper gesprüht worden. Und sogar noch aufsehenerregender war das lange, leuchtend rote Haar, das ihm wie ein Fluss aus Feuer über den Rücken wallte.
Er war ein exotischer Schmetterling und strahlte eine Sinnlichkeit aus, die beinahe greifbar war.
»Lass mich raten. Das ist E.T.?«, meinte Abby heiser.
Dante schnitt eine Grimasse. »Ein Kobold.«
Darauf wäre sie nicht so schnell gekommen. Oder überhaupt nie.
»Ist er nicht ein bisschen zu groß für einen Kobold?«, fragte Abby. Sie runzelte die Stirn, als er außer Sichtweite verschwand und dann ohne Vorwarnung direkt vor ihr wieder auftauchte.
»Nicht einfach ein Kobold, ich bin ein Fürst unter den Kobolden«, korrigierte der Mann mit voller Stimme und vollführte eine formvollendete Verbeugung. »Troy, zu Ihren Diensten, und, Süße, groß ist ganz eindeutig besser.« Er ließ eine Hand an seinem Bauch entlang nach unten gleiten und legte sie dann mit einem verführerischen Lächeln um sein Gemächt.
»Natürlich erwarte ich nicht, dass Sie mir glauben. Ich bin sehr gerne bereit, Ihnen zu zeigen, was ich habe, wenn Sie es wünschen. Ich habe im oberen Stock ein ganz entzückendes Zimmer, wo Sie meine Besitztümer ganz privat ausprobieren können.«
»Das wird nicht notwendig sein.« Dantes Stimme durchschnitt die Luft mit der Wärme eines Schneeballs in der Antarktis.
Der Kobold drehte sich um und betrachtete Dante mit einem Blick, der ganz eindeutig Anerkennung ausdrückte. Offenbar war er ein Kobold mit einer breiten Geschmackspalette.
»Oh, hallooooooo. Vorindustrielles Fleisch - genauso, wie ich es mag.«
»Können wir uns unterhalten?«
Der Kobold trat auf ihn zu und leckte sich die Lippen. »Da gibt es Besseres, was wir tun könnten.«
Dante zuckte mit keiner Wimper. »Es ist wichtig.«
»Lecker.« Der Kobold ließ eine Hand über Dantes Arm gleiten und beugte sich vor, um an ihm zu schnüffeln. Plötzlich spannte sich das Wesen an, wich zurück und warf beiden einen beleidigten Blick zu. »Sie ist deine Gefährtin. Verschwindet.«
Abby war hin-und hergerissen zwischen Unglauben und Belustigung. Das hier war kein boshafter Geistertanz in einem Garten und auch kein böser Streich, der einem Unbesonnenen gespielt wurde. Trotzdem war etwas bizarr Faszinierendes an Troy, diesem Fürsten der Kobolde.
Aber Dante wirkte alles andere als amüsiert. Er war schlicht und einfach wütend.
»Es wird nur wenige Augenblicke dauern.« Dante nahm seine Armbanduhr vom Handgelenk und hielt sie ihm hin, so dass das Gold im Licht der Straßenlaternen glänzte.
Die Nase des Kobolds schien tatsächlich zu zucken, als er sich vorbeugte, um die teure Uhr genauer zu untersuchen.
Schließlich richtete er sich wieder auf und deutete mit seiner großen Hand auf einen schmalen Durchgang.
»Dort geht es zur Rückseite des Gebäudes. Es gibt da eine Tür, die zu den Privaträumen führt.«
Er verschwand so mühelos, wie er aufgetaucht war. Abby hatte jedoch keine Gelegenheit, den verblüffenden Trick zu würdigen, da Dante ihre Hand ergriff und sie durch die Dunkelheit zur Rückseite des Gebäudes zog.
»Also, was ist das mit den Kobolden?«, fragte Abby.
Dante schnaubte angewidert. »Es sind launische, unzuverlässige Kreaturen, die die sinnlichen Freuden lieben und natürlich eine Vorliebe dafür haben, Chaos zu verbreiten.«
»Und dieser hier führt ein Cafe?«
Dante zuckte die Achseln. »Kobolde können als Menschen durchgehen, wenn sie möchten, und sind erstaunlich gut in diesem Geschäft.«
»Und warum sind wir hier?«
»Weil sämtliche Dämonen in der Gegend sich hier versammeln werden, um Informationen auszutauschen.«
Abby erschauderte. Großer Gott, die Dämonen hatten die teuren Vorstädte infiltriert? Was kam als Nächstes? Das Weiße Haus?
O nein. Denk nicht mal dran, Abby, warnte sie sich streng selbst.
»Dante, meinst du, dass es wirklich so ungeheuer intelligent ist, noch mehr Zeit mit Dämonen zu verbringen, obwohl die mich als eine Art Heiligen Gral ansehen?«
»Es sind keine anderen Dämonen im Gebäude«, versicherte er ihr. »Ich möchte nur mit dem Kobold sprechen. Er hat sicher Gerüchte gehört.«
»Du meinst, die Dämonen kommen zum Kaffeeklatsch hierher?«
»So könnte man es ausdrücken. Wenn Hexen in der Gegend sein sollten, behält man sie im Auge.« Er hielt an, um die Tür aufzuschieben. Sorgfältig untersuchte er den Raum, bevor er Abby über die Türschwelle zog und die Tür schloss.
Durch ein Fingerschnipsen begann das gedämpfte Licht heller zu leuchten, und Abby gab ein ersticktes Keuchen von sich.
Ihr Blick schweifte durch den riesigen Raum. Sie hatte noch nie so viel roten Samt und Lack an einem einzigen Ort gesehen.
Dämonen besaßen eindeutig eine Vorliebe für das Luxuriöse und Feudale.
Dante berührte sie am Arm und warf ihr einen warnenden Blick zu. »Du darfst nichts berühren.«
»Warum?«
»Kobolde neigen dazu, einige ihrer Gegenstände verzaubern zu lassen. Eine Berührung, und du wirst feststellen, dass du gezwungen bist, immer wieder in dieses Cafe zurückzukehren.«
Abby rümpfte die Nase. »Kein Wunder, dass sie so gute Geschäftsleute sind.«
»Es kann nicht schaden.«
Es verging kaum ein Augenblick, bevor Troy in den Raum stolziert kam und herrisch die Hand ausstreckte.
Pflichtgemäß ließ Dante seine Uhr in die geöffnete Handfläche fallen, und der Kobold hielt sie sich vor die Augen, um sie mit geübtem Blick zu inspizieren.
»Wollen wir mal sehen. Gold... echt. Diamanten... echt. Ein kleiner Kratzer auf dem Glas.« Er schürzte die Lippen und ließ die Uhr in seine Hemdtasche fallen. »Ich habe eine halbe Stunde Zeit für euch. Möchtet ihr euch setzen? Etwas Kaffee?«
Dante drückte Abbys Arm warnend, bevor er kühl den Kopf schüttelte.
»Nichts, vielen Dank. Es wird nicht lange dauern.«
Troy warf seine Feuermähne nach hinten. »Was kann ich für euch tun?«
»Wir sind auf der Suche nach Hexen.«
Der Blick aus den smaragdgrünen Augen glitt zu Abby.
»Ah. Möchtet ihr einen Trank oder vielleicht einen Fluch? Ich habe eine Freundin, die euch nicht enttäuschen wird, das verspreche ich.«
Dante antwortete: »Diese Hexen leben in einem Hexenzirkel, und sie versuchen sich nicht an Tränken. Sie besitzen Macht. Eine ganze Menge Macht.«
Die zu hübschen Gesichtszüge des Kobolds verzogen sich abrupt zu einem angeekelten Ausdruck. »Oh... diese Hexen.«
Dante machte einen Schritt nach vorn. »Du kennst sie?«
»Sie trafen vor einigen Tagen hier ein. Der Immobilienwert ist seitdem gefallen.«
Abby blinzelte verwirrt. »Immobilien?«
»Die Dämonen sind besorgt. Diese Hexen sind nicht wie andere. Sie beten nicht die Schönheit und die Herrlichkeit von Mutter Erde an. Sie beziehen ihre Kräfte aus Blutopfern. Es gab schon einige Sespi-Geister, die einfach verschwunden sind.«
Blutopfer? Abby hatte nicht das Gefühl, dass das gut klang.
Tatsächlich war sie allmählich immer mehr davon überzeugt, dass es eine sehr schlechte Idee war, nach diesen Hexen zu suchen.
Falls Dante geschockt war, dann zeigte er es nicht. Sein Gesicht hätte aus Marmor gemeißelt sein können.
»Was weißt du von ihnen?«, fragte er.
»Ihr Heim ist das große viktorianische Ungetüm am Ende der Iris Avenue.«
»Wie viele sind es?«
»Zehn.«
»Ist das Haus geschützt?«
Der Kobold zog eine Grimasse. »Sehr gut geschützt. Sie besitzen eine zahme Shalott, die das Gelände beschützt.«
»Ja, wir sind uns schon begegnet«, murmelte Abby.
Dante dachte einen Moment lang nach. »Gibt es irgendwelche Bindungszauber?«
»Niemand hat bisher welche entdeckt.«
»Offenbar schonen sie ihre Kräfte«, murmelte Dante.
Troy trat vor, ein Lächeln auf den Lippen und ein gefährliches Glitzern in den Augen. Er berührte Dantes Haar. »Ich hoffe wirklich, dass sie auf deinem Speiseplan stehen, mein Schöner. Die ersten negativen Auswirkungen auf den Betrieb sind bereits zu merken.«
Dante lächelte kalt. »Vorerst möchte ich nur mit ihnen sprechen.«
»Zu schade.« Der Kobold seufzte theatralisch auf und wandte sich Abby zu. Er streichelte über ihr Haar, wie er es bei Dante gemacht hatte. Dann beugte er sich langsam vor, um an ihrem Hals zu schnüffeln. Abby zwang sich, ruhig zu bleiben. Der Fürst der Kobolde wirkte harmlos, aber er war groß genug, um sie mit einer Hand zu zerquetschen.
»Woher kommt dieser Geruch? Da gibt es etwas...«
»Das ist alles, was wir brauchen.« Mit einer eleganten Bewegung trat Dante zwischen Abby und den Kobold. Sein gesamter Körper strahlte unmittelbare Gefahr aus.
»Vielen Dank.«
Die smaragdgrünen Augen verengten sich, aber dann vollführte der Kobold mit einem süffisanten Lächeln eine tiefe Verbeugung.
»Das Vergnügen war ganz meinerseits.« Er blickte über Dantes Schulter, um Abby mit einem wissenden Lächeln zu durchbohren. »Trotzdem denke ich, es wäre das Beste, wenn ihr nicht wiederkommen würdet. Mein Unternehmen verfügt über einige kleinere Zauber, die die ungezähmteren Neigungen meiner Gäste dämpfen, aber ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, was das Blutvergießen aufhalten könnte, wenn sie Wind von dir bekämen, Teuerste.«
»Wir kommen nicht wieder«, versprach Dante und brachte Abby schnell aus dem Raum, zurück in den schmalen Durchgang. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, spähte er in die Schatten.
»Jetzt verfügen wir über die Information, die wir haben wollten. Und was zum Teufel machen wir nun damit?«
Der Keller schien geradewegs vom Set eines Horrorfilms zu stammen. Der Fußboden war völlig verschmutzt und übersät mit den Hinterlassenschaften von Mäusen und Ratten. Die abgenutzten Steinmauern waren feucht und mit einer glitschigen Schimmelschicht überzogen. Sogar die Luft war drückend und erfüllt von einem düsteren Gefühl der Bedrohung. All das zusammen schuf eine Atmosphäre, die die meisten Leute in die Flucht geschlagen hätte. Aber Edra war aus härterem Holz geschnitzt.
Sie hatte keine Vorliebe für die Schatten, aber sie nutzte sie bereitwillig zu ihren eigenen Zwecken. Und nach all den Jahrhunderten, in denen sie gegen die Dunkelheit gekämpft hatte, hatte sie endlich akzeptiert, dass sie dem Bösen nur dann endgültig ein Ende bereiten konnte, wenn sie sich ihm direkt stellte.
Sie stellte ihre Kerze auf dem großen Altar ab, den zu bauen sie befohlen hatte, nachdem sie gezwungen gewesen waren, aus dem geheimen Versteck des Hexenzirkels außerhalb der Stadt zu fliehen. Dann griff sie in die Tasche ihrer Robe und zog ein kleines Amulett heraus.
Die Dunkelheit schien noch finsterer zu werden, und die Kerzenflamme flackerte. Eine markerschütternde Kälte kroch durch die Luft.
Edra lächelte. So viel Macht.
Genügend Macht, um die Welt zu verändern.
Das leise Kratzen an der Tür war die einzige Warnung, dass jemand sich näherte. Rasch ließ Edra das Amulett wieder in die Tasche gleiten und murmelte leise einige Worte vor sich hin.
Die wenigen Hexen, die noch übrig waren, konnten kaum einen Bindungszauber wirken, geschweige denn, dass sie genügend Verständnis für die dunkle Aura besaßen, die dem Amulett innewohnte. Dennoch würde sie kein Risiko eingehen. Nicht jetzt.
Nicht, wenn sie dem Erfolg so nahe war, dass sie ihn schmecken konnte.
Mit einem Stöhnen zwang sie ihre steifen Gelenke, sich vor den Altar zu knien, und neigte ihren Kopf zum Gebet. Erst als sie spürte, wie die Frau neben ihr stehen blieb, hob sie den Kopf.
Der Eindringling war dünn und hatte strähnige braune Haare. Diese Frau besaß ohne Zweifel einen Namen, aber Edra hatte sich nie die Mühe gemacht, ihn sich zu merken. Die meisten Personen, die sie einst geliebt hatte, waren nun tot und begraben. Die unbedeutenderen Hexen des Zirkels waren lediglich notwendige Unannehmlichkeiten.
»Die Dämonin lebt noch?«
»Sie lebt noch, aber ihre Verletzungen waren schwer«, berichtete die andere Frau. »Sally war gezwungen, sie teilweise zu heilen.«
»Sie hätte sich nicht die Mühe machen sollen. Sehr bald werden wir für die Kreatur keine Verwendung mehr haben.« Edra entging der Ärger nicht, der in den dunklen Augen aufblitzte, und sie erhob sich. Absichtlich sorgte sie dafür, dass ihre Macht den Raum erfüllte. Es gab Zeiten, in denen ihre Untergebenen daran erinnert werden mussten, dass unter ihrer Altersgebrechlichkeit ein Wille lag, der ohne Gnade vernichtete.
»Du hast etwas zu sagen?«
Die andere Hexe zögerte kurz, bevor sie die Schultern straffte.
»Ihr habt seit einem Jahr versprochen, dass wir von den Dämonen befreit sein würden, aber wir sind der Erreichung unseres Zieles nicht näher gekommen, und nun sind zu viele von uns tot.«
»Es war nicht mein Fehler, dass Selena gierig wurde und die Zauberbücher benutzte, bevor ich ihr helfen konnte, oder dass der Magier ohne Warnung zuschlug«, wetterte die alte Hexe ärgerlich.
»Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.«
Edra griff in ihre Tasche, um das Amulett zu berühren. »Willst du damit sagen, dass ich versagt habe?«
»Ich will damit sagen, dass wir selbstzufrieden geworden sind.«
»Und du willst meine Autorität in Frage stellen?«
Die Hexe, die vielleicht spürte, dass sie kurz vor ihrem Ableben stand, machte hastig einen Schritt nach hinten.
»Nein. Ich möchte einfach nur, dass wir uns zurückziehen und Kräfte sammeln. Den Plan weiter fortzuführen, während wir so schwach sind, ist Wahnsinn.«
»Unmöglich. Alle Vorzeichen passen zueinander. Wir müssen zuschlagen, solange wir können.«
»Aber wir wissen nicht einmal, wo sich der Phönix befindet. Die Shalott ist ihrer Pflicht nicht nachgekommen.«
Ärger flammte in der uralten Hexe auf, doch dann schob sie ihn energisch beiseite. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Nicht jetzt.
Ein kaltes Lächeln entstand auf ihren Lippen.
»Der Kelch befindet sich in der Nähe. Gerade jetzt sucht er nach uns.«
Die jüngere Hexe blinzelte überrascht. »Ihr spürt ihn?«
»Ja.« Ein erwartungsvoller Schauder überlief den Körper der Alten. »Bereitet das Opfer vor. Unsere Zeit naht.«
»Aber...«
»Ich will mich nicht wiederholen müssen«, warnte Edra unerbittlich. »Bereitet das Opfer vor.«
Die jüngere Frau war nicht ganz dumm. Hastig wich sie zur Treppe zurück. »Ja, Meisterin.«
Edra schickte sie mit einer Handbewegung fort und konzentrierte sich auf das vage Bewusstsein, das mit jedem Moment, der verging, deutlicher wurde.
Endlich.
Trotz all der schlimmen Rückschläge. Trotz all der Tode. Trotz des Misserfolges ihrer Untergebenen. Ihr Traum stand kurz davor, Wirklichkeit zu werden.
»Komm zu mir«, flüsterte sie leise.